Erschöpfte Demokratie

ein theaterabend als angewandte utopieforschung (UA)

25 Jahre nach der friedlichen Revolution und dem Mauerfall, dem hoffnungsvollen Aufbruch in eine neue Zeit, bestimmen Krisen unser Leben. Umwelt, Klima, Flüchtlinge, Arbeit, Finanzen, Schulden, Gender - unsere ganze Umgebung scheint auseinander zu brechen. Nichts scheint mehr sicher. Hoffnungsfrohe Aufbrüche im Arabischen Frühling haben uns scheinbar neben der Flüchtlingskrise auch den Terror beschert. Der Wachstum des Neokapitalismus überhäuft uns mit Finanz- und Bankenkrisen und untergräbt soziale Errungenschaften. Angesichts der Terrorwarnungen und Amokläufe werden demokratische Werte mittels Ausnahmezustand ausgesetzt. Und mit vorauseilendem Gehorsam opfern wir Privatsphäre und Datenschutz. Alles scheint immer nur schlechter werden zu können. Dies jedenfalls suggerieren uns die täglichen Schlagzeilen der Medien. 
Wo also bleibt die Utopie, die positiv besetzte!? Kann Utopisches heute überhaupt noch gedacht werden oder wird es vom allgegenwärtigen negativen Menschenbild (dem Bild vom Anderen als Schwachen, Bösen und Gierigen) einfach hinweggefegt, wie ein Sandkorn im Sturm.

Mit der Epigenetik als noch junger Wissenschaft müssten wir aber doch zu dem Schluss gelangen, dass wir besser positive als negative Erfahrungen in die Welt setzen sollten. Denn die Epigenetik untersucht das Phänomen, dass Erfahrungen (wie z.B. traumatische Erlebnisse) die Gene verändern und an die nächsten Generationen vererbt werden. Das Theater zu Gast am Max-Planck-Institut (für Gesellschaftsforschung in Köln und für Bildungsforschung in Berlin) und nun auch in der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft in München will nicht die auf der Hand liegenden Apokalypsen unserer Zukunft nachzeichnen, sondern will sich auf den schwierigen Weg in positive Denkmodelle begeben.

Können wir von anderen Gesellschaftsformen lernen, wie z.B. von den Ameisen, die schon seit 150 Mio. Jahren erfolgreich in Zivilisationen zusammenleben? Gibt es nicht heute schon zahlreiche Denkansätze und Modelle, die sich bereits in Parallelgesellschaften und Kleinststrukturen entwickeln, wie dies der im Juni 2016 herausgekommene Film "tomorrow - Die Welt ist voller Lösungen" eindrücklich zeigt. Denken wir also gemeinsam mit Wissenschaftlern, Künstlern, Philosophen und dem Publikum neue ökonomische, politische und gesellschaftliche Modelle und entwickeln visionäre alternative Lebensentwürfe.

mit: Marc Fischer, Azizè Flittner, Helena Aljona Kühn, Tomasso Tessitori, (Petra Weimer)
Konzept: Andrea Bleikamp, Rosi Ulrich
Regie: Andrea Bleikamp
Text & Dramaturgie: Rosi Ulrich
Musik/Sound: Sibin Vassilev
Ant-Installation: Kuai Shen
Animation: Kerstin Unger
Rauminstallation: Jens Standke
Kostüm: Sabine Schneider
PR & Öffentlichkeitsarbeit: neurohr & andrä
Kommunikation Berlin k3 berlin - Kontor für Kultur und Kommunikation
Presse, München: Pfau PR
Produktion(Location): Mechthild Tellmann

UA: 23.11.2016, 20 h / 25./26./28./30.11.2016, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
18./19./20./21.7.2017, 20 h, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
14./15./16./19/20.9.2017, 20 h, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
2.-5.4.2019, 19 h, Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, München
13. September 2020 - gezeigt wurden Auszüge aus dem Stück. Festival ökoRAUSCH 2020 im MAKK (Museum für Angewandte Kunst Köln)
Informationen: 0160 8020996 - info [at] wehr51.com

Presse

Ein Beitrag von theater pur

"Ein ästhetisch hoch stehendes, fröhlich gesellschaftskritisches und ungeheuer anregendes Theatererlebnis" theater pur

"Jeder dieser Entwürfe regt zum Nachdenken an, jeder ist auf verschiedenen Ebenen auch zum Erschrecken. Jeder setzt unterschiedliche Schwerpunkte. Mal geht es in erster Linie um Glück, mal um die Erhaltung von Art und Zivilisation, mal um das reine, reibungslose Funktionieren von Gesellschaft. Hervorragend präsentiert sind sie alle, von Tomasso Tessitori, der die ‚Open Narration‘ im orangen, an Buddhistisches denken lassenden Kittel mit gewollter Ausgeglichenheit und nach innen fast explodierender Fröhlichkeit vorstellt, von Petra Weimer, die ein wenig selber wie eine uralte, müde und doch lebenskluge und sehr präzise Ameisenkönigin wirkt und von Helena Aljona Kühn mit ihrer ganz natürlich wirkenden Mischung aus Repräsentationsbewusstsein und Enthusiasmus. Auf vielen Ebenen wird die Seminar-, also die Kommunikationssituation reflektiert und produktiv gemacht. Der von Andrea Bleikamp ungeheuer subtil inszenierte Abend ist intensiv, bleibt aber, sozusagen durchflossen von positiver Energie, wunderbar locker und ermöglicht es so, die geballten, wenn auch stringent servierten Informationsmengen weitgehend anstrengungslos aufzunehmen. So hat auch Erschöpfte Demokratie die wohl größte Stärke von Rosi Ulrichs Theaterarbeit: sie zwingt den Zuschauer, sich mit sich selbst zu befassen, mit seinen Bedürfnissen und Wünschen, seinen Ängsten, seiner Eigensucht, seinen Denkmustern und Denkbarrieren. Das kam auch in der die Performance abschließenden 20minütigen, lebendigen Diskussion überzeugend heraus." Andreas Falentin in theater pur

"Für die neueste Produktion des theater-51grad, "Erschöpfte Demokratie" stellt Rückschritt keine erfolgversprechende Lösungsstrategie für Veränderung dar. ... Da ist die OPN, die Open Narration, die politische Repräsentation vollkommen neu denkt, Staaten überflüssig macht und versucht, Macht in Information und Kooperation zu überführen. Den Raum mit dem "lebenden Gemälde" beherrscht eine Installation, in der ein Ameisenvolk lebt. Vollkommene Funktionalität kann durchaus schön sein, wie das Gewirr und Gekrabbel in den Röhren und Zylindern zeigt. ... Und dann ist da noch "Europien", der Ort mit bedingungslosem Grundeinkommen, negativ verzinstem Fließgeld und einem Ministerium für Glück." Bernhard Krebs in choices

"Kunst sei ein „fernes Frühwarnsystem“ schrieb der kanadische Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan. Sie könne der „alten Kultur“ stets sagen, was im Begriff sei, ihr zuzustoßen. ERSCHÖPFTE DEMOKRATIE: #1 Revolution. Ein Theater- abend für angewandte Utopieforschung probt, was das sein könnte. ...
Man muss bei all dem unweigerlich an Klaus Lazarowicz, Münchner Theaterwissenschaftler, und seine Idee der „triadischen Kollusion“, des „Zusammenspiels“ von Autor, Schauspieler und Zuschauer denken. Doch geht ERSCHÖPFTE DEMOKRATIE noch einen Schritt weiter: Wer teilnimmt, wird auch selbst zur Kunstfigur, zum Teil des Stücks. Die imaginäre vierte Wand, die im Theater traditionell Schauspieler und Zuschauer trennt, wabert durch die Produktion und scheint sich hier und da ganz aufzulösen, gleich einem projizierten Hologramm, dem die Energie ausgeht.
„Man kann die Zusammenhänge nur im Rückblick erkennen“, sagt der Bewohner von „Myland“. Dieser Rückblick zeigt Zukünfte auf, die gleichzeitig nah und fern, wünschenswert und dystopisch sind. Zukünfte, die man nicht zu Ende denken muss, um mit ihnen im Kopf zu spielen. Zu Ende denken, lassen die Macher des Stücks immer wieder durchblicken, müsse man selbst. Visionen überhaupt zu denken, ist schon ein Ziel an sich." Torsten Kathke in: MPIfG News

„Ich bin eine Kunstfigur“, sagt der Mann, „ein Utopist.“ Er stellt sich auf einen leuchtenden Plastikhocker und spricht über Klimakatastrophe, Krieg und Arbeitslosigkeit. Über uns. Und darüber, dass Utopisten es 2016 schwer haben. Es sind verdichtete, starke Bilder. Der Mann erklärt, was jetzt passiert. Wir werden nacheinander drei Räume sehen. Jeder Raum hat ein Thema: Natur, Wirtschaft, Politik. Die drei Gruppen mit ihren Halsbändern teilen sich auf, jede Gruppe erlebt jeden Raum. Ich habe ein grünes Band, und meine Gruppe schaut sich als erstes ein uraltes, aber zukunftsweisendes Gesellschaftsmodell an: Das der Ameisen.... Eine Gesellschaft, die 150 Millionen Jahre alt ist. 50.000 Individuen, 26 Grad Celsius. Die Ameisen holen Blätter aus einem Vorratskolben, machen daraus Nahrung für einen Pilz. Der Pilz produziert einen Fetteiweißstoff, von dem sich die Ameisen ernähren. Mittendrin im Zentrum: die Königin. Sie gibt keine Befehle. Die Hierarchien sind flach. ...
Wir setzen uns um einen Tisch und holen unsere Legosteine aus den Taschen. Wir bauen Türme, in jeder Farbe, es entstehen sechs unterschiedlich hohe Türme - die für Arbeit, Bildung und Soziales sind die Höchsten. Das heißt: In diesen Bereichen sehen wir 2016 Handlungsbedarf. In „Europien“, dem Land der Zukunft, gibt es das bedingungslose Grundeinkommen. „Der finanzielle Druck ist klein“, sagt die Frau in helloliv. Für welchen der sechs Bereiche würden wir uns engagieren, wenn wir dieses Grundeinkommen hätten, wenn wir in der Zukunft lebten, in Europien? ...
Dann lässt uns ein Mann in Orange in den dritten Raum. Natur, Wirtschaft - und jetzt noch Politik. Der Mann hat ein blaues Ding an der linken Schläfe, eine Art Implantat. Ein Cyborg? Drinnen eine ovale Tischreihe, acht leuchtende Bildschirme, vorne ein riesiger Touch-Flatscreen. Der Vorzeigeraum der Max-Planck-Stiftung, smart und klinisch. ...Der Mann erzählt vom Verzicht auf Nationalstaatlichkeit, von der Abschaffung der Berufspolitker, von informierter Partizipation. Und von dem blauen Dingsda an seinem Kopf, dem „blue tank“, der jeden Bürger mit einer Datenwolke vernetzt, so dass jeder immer an alle relevanten Informationen gelangen kann. Ich denke: schick und unheimlich.
Der Abend ist fast rum, wir haben dreimal über eine mögliche Zukunft nachgedacht, in der die Menschen glücklicher sein könnten. Wenn sie wollten. Jetzt kommt die Abschlusskonferenz, alle drei Gruppen und alle vier Schauspieler reden 20 Minuten lang miteinander ... Der Wecker klingelt. Die 20 Minuten sind um. Der Abend ist vorbei. Es ist gleich 22 Uhr, und ich stehe wieder an der rauschenden Nord-Süd-Fahrt. Das war kein Theaterstück. Es war eine Reise durch Möglichkeiten, es war der Entwurf einer Zukunft. Zwei Stunden zwischen Realität und Science Fiction. Es gab viel Beifall für einen außergewöhnlichen, aufrüttelnden und ziemlich sinnvollen Nicht-Theaterabend."
Jörg-Christian Schillmöller in: meinesuedstadt.de

"So pflügt "Erschöpfte Demokratie" durch die Felder Wirtschaft, Politik und Natur und entwirft Modelle, die man wahlweise inspiriernd oder irritierend finden kann. Immerhin: die abschließende 'Konferenz' bringt die Menschen wirklich mal miteinander ins Gespräch über große Ideen, statt über den letzten 'Tatort'. 'Ich finde den Gedanken charmant', lobt ein Zuschauer, 'Politiker abzuschaffen'." Patrick Wildermann in: Tagesspiegel, Berlin.

"Die 'ERSCHÖPFTE DEMOKRATIE' ist keine frontaltheatermäßige Berieselung, sondern eher eine Art Mitmacherfahrung. ... Und während du da so sitzt und sich diese Ideen entwickeln, da hat man dann öfter so den Moment, wo man denkt: Ja, warum eigentlich nicht? ... Das alles ist so ein radikal positiver Abend. Diese Utopien inspirieren, das hat man dann auch in der anschließenden Publikumsdiskussion gemerkt, wo die vorgestellten Ideen leidenschaftlich weiterdiskutiert wurden." Michael Hölzen in: rbb Radioeins

Textauszug

Ich bin ... eine Kunstfigur.

Als Kunstfigur kann ich Utopien denken, ohne sofort labil zu werden, ohne sofort angegriffen zu werden, weil die Kunstfigur sich außerhalb der Norm bewegt, weil sie Narrenfreiheit genießt.

Eine Kunstfigur ist eine frei erfundene Figur und deshalb zeichnet sie sich durch gewisse Freiheiten aus. Z.B. kann sie bestimmte Dinge denken, die andere nicht denken können, sie kann bestimmte Dinge tun, die andere nicht tun können.

Im eigentlichen Sinne existiere ich nicht, doch das ist enorm befreiend. Denn ich muss nicht fürchten eines Tages meine eigenen Gedanken zu fürchten. Als Kunstfigur bin ich nicht komplex – ich habe ein Ziel und da bin ich konsequent: ich bin ein positiv denkender Mensch.

Für jede Krise, jedes Problem gibt es eine Lösung. Meine Kraft und Energie schöpft sich aus diesem Prinzip. Ein Leben ohne Herausforderung ist langweilig. Ich begegne mit Begeisterung den Krisen und Herausforderungen – Das ist mein Metier, meine Leidenschaft. Positive Gedanken in Krisen und Problemen zu suchen, das ist eine Kunst – MEINE KUNST. Und dieser Kunst gebe ich Gestalt!

Ich bin ein Utopist: ein visionärer Denker, das ist mein Beruf. Man schätzt meine Arbeit. Es gibt viele, die sich für diese Aufgabe bewerben. Man muss Glück haben, um in die Auswahl zu kommen. Aus einem Kreis von Hunderten werden Fünf gelost. Das sind die Auserwählten: Die Utopisten!

Doch: Utopiefähigkeit muss hart erlernt werden. Schwer ist die Lektion, sich freies Denken zu erlauben, vorgefestigter Werte zu entsagen und Egozentrismen zu vermeiden. Denn Angst blockiert freies Denken. Mut also braucht es, utopisch zu denken.

Im Spielplan des WEHR51, produziert 2016 durch das theater-51grad, in Kooperation mit Freihandelszone - ensemblenetzwerk köln
zu Gast im Max-Planck-Haus am Hofgarten (München)
gefördert durch: Ministerium für Kultur und Wissenschaften des Landes NRW, NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste, Kulturamt der Stadt Köln